Stadtentwicklung: Shanghais Zukunft liegt in der richtigen Mischung

Gut ein Jahr vor der Weltausstellung Expo, genauer gesagt im März 2009, weilte der US-amerikanische Historiker Jeffrey Wasserstrom in Shanghai, einer Stadt, die bis heute als wirtschaftlicher Pulsgeber Chinas gilt. Damals ergriff man bereits erste Maßnahmen an einigen Uferabschnitten des Huangpu, der wichtigsten Wasserader der Stadt, um die örtliche Kulturwirtschaft anzukurbeln. Schon damals geriet Wasserstrom angesichts der angestoßenen Veränderungen ins Schwärmen und prophezeite Shanghai eine „große Zukunft“.

Heute, mehr als ein Jahrzehnt später, ist auch die Gegend rund um den Suzhou, eine weitere zentrale Wasserader der Megametropole, zu einem innovativen öffentlichen Raum gereift. Einst waren die Ufer dieses Flusses wegen der dortigen verfallenen und veralteten Stadtabschnitte als industrieller Rostgürtel verschrien. Mittlerweile aber ist hier ein nagelneues Stadtbild entstanden, das als landesweites Paradebeispiel für Stadterneuerung und Kulturentwicklung gilt, ja als wichtiger Ideengeber auch für andere Städte.

Facelifting für Shanghais Wasseradern

Lange waren die Gebiete entlang der beiden Flüsse von der Industrieentwicklung gezeichnet. Überall fanden sich dröhnende Fabriken, rund um die Uhr betriebsame Piere und überfüllte, laute Gewerbe- und Wohngebiete. Die Folge: Die beiden Flüsse waren stark verschmutzt und die schlecht funktionierenden Stadtviertel kämpften damit, den Bedürfnissen der Anwohner gerecht zu werden.

1990 wies man den Bezirk Pudong am Ostufer des Huangpu als neues Gebiet für Innovation, Investitionen und Unterhaltung aus. Heute ist es eine der glänzendsten Gegenden Shanghais. Hier ragt etwa der Oriental Pearl Tower, einer der höchsten Funk- und Fernsehtürme der Welt, als Wahrzeichen hoch in die Lüfte und fügt sich dabei doch harmonisch in die architektonische Silhouette am Westufer des Huangpu ein.

Die große Wende kam letztlich mit der Shanghaier Expo 2010. Sie stand unter dem Motto „Bessere Stadt, besseres Leben“. Dieser Leitidee folgend läutete die Stadtregierung einen Wandel an den städtischen Flussufern ein. Aus ehemaligen Industriezonen wurde städtischer Lebensraum mit kulturellen Funktionen.

Im Mai 2001 gab die Stadtregierung ihren Masterplan für die Entwicklung Shanghais für die Jahre 1999 bis 2020 bekannt. Ziel war es, Shanghai zu einer internationalen, wohlhabenden, modernen und schönen Metropole aufzubauen. Als Folge wurden etliche lokale Betriebe wie die Jiangnan-Werft oder das Eisen- und Stahlwerk Nr. 3 ausgelagert. Die so entstandenen Freiflächen wurden anschließend in Kunst-, Kultur- und Umwelträume umfunktioniert. Der Shanghaier Bund (auf Chinesisch „Waitan“), das historische Hafenviertel im Zentrum Shanghais, bewarb sich damals gerade für den Status eines Weltkulturerbes. Hierfür wurde eigens ein Plan zum Schutz des kulturellen Raums aufgestellt.

Nachdem die Stadtregierung mit ihrer Erneuerung des Huangpu überzeugen konnte, stand als nächstes die Uferlandschaft des Suzhou auf dem Programm. Der Fluss gilt als Wiege der modernen Industrie Chinas und galt lange als Sinnbild für Shanghais Status als größte chinesische Industriestadt. Mehlmühlen, Chemiefabriken, Maschinen- und Textilunternehmen – in vergangenen Jahrzehnten reihten sich hier an den Ufern des Suzhou die Industriebetriebe wie an einer Perlenschnur dicht aneinander. Hunderttausende von Menschen arbeiteten und lebten hier. Die dröhnenden Maschinen, die Warenstapel, der rege Verkehr und die wahllos abgelassenen Abwässer erinnerten an vergangene Szenen an der Themse in London oder der Seine in Paris zu Beginn der Industrialisierung.

Die städtebauliche Neugestaltung und räumliche Planung der Gegend rund um den Suzhou begann mit einer neuen Stadtplanungsrunde im Jahr 2018. Dabei integrierten die Entscheidungsträger die Umweltaufwertung und die kulturelle Wiederbelebung des Gebietes entlang des Flusses offiziell in den städtischen Entwicklungsplan. Bis 2020 wurden 45 Kilometer Flussufer im Kernbereich des Huangpu und ein 42 Kilometer langer Abschnitt im Kernbereich des Suzhou saniert und funktional aufgewertet. Mit beachtlichem Erfolg, was sich heute leicht an Aspekten wie der räumlichen Struktur, den Funktionszonen, den Ökolandschaften und dem kulturellen Antlitz der Gegend ablesen lässt. All dies zeigt schon heute, in welch positive Richtung es auch in Zukunft gehen wird.

Lehren für die Zukunft

Aristoteles sagte einmal, Menschen kämen in den Städten zwar einfach zum Leben zusammen, was sie aber letztlich halte, sei der Wunsch nach einem langfristig guten Leben. Der einstige Expo-Slogan „Bessere Stadt, besseres Leben“ fängt den Geist dieser Aussage gut ein. Das neue Konzept der Stadtentwicklung steht ganz in seinem Sinne. Ziel des Städtebaus ist nicht nur eine Erhöhung der Bevölkerungszahl oder des Wirtschaftswachstums, sondern auch die Schaffung eines sinnvollen und erstrebenswerten Lebensstils.

Die Erneuerung und Wiederbelebung der beiden großen Flüsse Shanghais erweist sich als ein anschauliches Beispiel für diesen Ansatz. Im Grunde geht es nicht darum, Wasserwege auszubaggern oder mehr Industriegüter und Alltagswaren zu produzieren, sondern darum, den Menschen das Wasser und die schöne Landschaft zurückzugeben. Dies ist allerdings alles andere als einfach, da die Interessen und Bedürfnisse vieler Parteien betroffen sind. Um diese miteinander in Einklang zu bringen, hat Shanghai einige Untersuchungen vorgenommen, die eine Referenz für die globale Stadterneuerung und kulturelle Wiederbelebung darstellen.

Während der Erneuerung muss die Regierung klar die Führung übernehmen, aber auch die Bürger in den gesamten Prozess der Neugestaltung miteinbeziehen, um öffentliche und private Interessen in Einklang zu bringen. Die hohe Bevölkerungs- und Bebauungsdichte entlang der beiden Flüsse macht die Raumressourcen zu einem äußerst knappen Gut. Um eine bessere Anbindung der Flussufer zu erreichen, mussten einige Räume, die früher von Unternehmen und Wohnvierteln genutzt wurden, der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden, was zwangsläufig auf Widerstand stieß. Hätte die Regierung hier nicht das Zepter in die Hand genommen, hätten sich die bestehenden Probleme nur schwerlich lösen lassen. Hätte die Regierung andererseits zu hohe Anforderungen gestellt, wären so nur weitere Konflikte entstanden. An einigen typischen Erfolgsbeispielen der örtlichen Regierung lässt sich deutlich erkennen, wie Shanghai den Interessen seiner Einwohner erfolgreich Rechnung getragen hat.

In der Jinyang- und der Taoyuan-Gasse, die in den 1920er bzw. 1930er Jahren erbaut wurden, befinden sich die für Shanghai typischen Shikumen-Häuser, also traditionelle Holz-Ziegel-Bauten mit Steintoren. Zu Beginn der Restaurierungsarbeiten zeigten sich viele Anwohner zunächst einverstanden mit den geplanten Maßnahmen, änderten später allerdings ihre Meinung. Einige, die sich bereit erklärt hatten, moderne Wasserklosetts einzubauen, stellten beispielsweise schnell fest, dass sich ihre öffentlichen Nutzflächen durch den Umbau verkleinerten, sodass sie nicht mehr zur Mitarbeit willens waren. Nachdem jedoch alle Bewohner davon überzeugt werden konnten, sich von den traditionellen Toilettenanlagen zu verabschieden, verbesserte sich ihr Lebensumfeld immens.

Ein weiteres Beispiel war die umfassende Renovierung von Häusern in Wohngebieten. Manche hielten anfangs nicht viel von diesem Vorhaben. Als jedoch die ersten hochwertigen Wohnanlagen standen, baten viele der einstigen Skeptiker darum, die Mauern zwischen ihren benachbarten Anlagen abzureißen, um einen grünen Landschaftsgürtel zu gestalten.

Nach der Fertigstellung des Masterplans zur Stadtentwicklung wurde bei dessen Umsetzung dann besonderes Augenmerk auf innovative Strategien und Mechanismen gerichtet. Wie gut eine Planung umgesetzt wird, hängt letztlich entscheidend von den Bauherren ab. Hier brachte Shanghai ein System ins Rollen, in dem Ingenieure, Planer, Gesundheitsspezialisten sowie Berater für Management, Rechtssachen und Governance auf kommunaler Ebene miteinbezogen wurden. So sorgte man für ein umfassendes Management des städtischen Raums.

Nehmen wir etwa den Liaoyuan Huayuan in der Jiangpu-Straße als Beispiel. Es handelt sich dabei um einen Block aus drei alten Wohnanlagen mit einem Durchschnittsalter von 30 Jahren, der eine Fläche von 26.000 Quadratmetern und 416 Haushalte umfasst. Hier fehlten lange angemessene öffentliche Nutzflächen für die Anwohner. Vor diesem Hintergrund schlugen die Planer vor, Mauern zu entfernen und so neue Freiflächen zu schaffen. In mehreren öffentlichen Sitzungen wurden verschiedene Meinungen zu diesem Ansatz eingeholt. Die Bemühungen der Verantwortlichen haben sich letztendlich ausgezahlt. Heute ist das Wohngebiet um viele öffentliche Plätze reicher, die Jung und Alt Raum zur Freizeitgestaltung bieten.

Nennenswert ist auch das Beispiel des „Minigartens“ in der Fuxin-Straße. Er befindet sich in der Nähe der berühmten Tongji-Universität und war ursprünglich ein 80 Meter langer Grünstreifen entlang der Straße. Durch die Neugestaltung der Planer finden sich hier heute nicht nur neue Anlagen für Kinder wie Rutschen und Schaukeln, sondern die Grünanlage mit ihren geometrischen Figuren auf den Wegen lädt auch Erwachsene zum Bummeln, Entspannen und Abschalten ein.

Kultur braucht Industrie

Heute hat sich entlang des Huangpu und Suzhou eine dynamische ökologische Achse gebildet, die aber auch neue Herausforderungen mit sich bringt. Denn das neue Antlitz und die Fortschritte in Sachen Ökologie, öffentliche Einrichtungen, Kultur und Tourismus gehen in gewissem Maße auf Kosten der industriellen Funktionen des städtischen Areals. Dies ruft Probleme wie eine einseitige Industriestruktur, einseitige Funktionen, übermäßige Investitionen in öffentliche Ressourcen und hohe Betriebs- und Wartungskosten auf den Plan. Probleme, mit denen gegenwärtig nicht nur Shanghai zu kämpfen hat. Mit Blick auf die Zukunft bedarf es neuer Industrien, um eine koordinierte Entwicklung von öffentlichen Angeboten und Realwirtschaft zu fördern. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Umweltpolitik fruchtet und die öffentlichen kulturellen Funktionen im Wesentlichen entfaltet werden.

Für die Zukunft habe ich deshalb folgende Vorschläge: Öffentliche Räume brauchen auch wieder wirtschaftliche Funktionen. Derzeit positioniert sich das Huangpu-Ufer als Finanz-, Kultur-, Innovations- und Erholungszentrum. Die zu schnelle Auslagerung von Wirtschaftsfunktionen führt jedoch zur Entkopplung von Leben und Arbeit, mit der Folge, dass die Gebiete entlang des Flusses als rein öffentliche Räume dienen, in denen nur konsumiert, nicht aber produziert wird, was den Druck auf die Steuerausgaben erhöht. Künftig sollte man Ästhetik und Zweckmäßigkeit besser ins Gleichgewicht bringen. Schwerpunktmäßig sollte man die Realwirtschaft entwickeln und die industriellen Funktionen entfalten. Ziel muss es sein, die wertvollen Raumressourcen in eine Goldgrube für Unternehmertum und Wohlstand zu verwandeln.

Auch die Kultur- und Tourismusindustrie muss sich natürlich rasch entwickeln. In der gegenwärtigen Industrieplanung schenken die beiden Flüsse Ökologie, Kultur und Tourismus große Beachtung. Primäres Ziel ist es, eine lebenswerte Stadt zu schaffen. Diese Positionierung ist historisch bedingt, da die Industrietätigkeiten entlang der Flussufer in der Vergangenheit das tägliche Leben der Menschen durch Verschmutzung und Lärm stark beeinträchtigt haben. Infolgedessen wurde in der neuen Runde der Stadtplanung die Entwicklung der Industrien über Bord geworfen. In naher Zukunft ist es allerdings meines Erachtens empfehlenswert, Abstand zu nehmen von der einheitlichen Struktur der Kultur- und Tourismusindustrie und stattdessen die beiden Flüsse auf innovative Weise zu re-industrialisieren. Hier sollte das Ziel darin bestehen, die Gewässer zu einem wichtigen neuen Sektor der wirtschaftlichen Entwicklung Shanghais zu machen.

Und nicht zuletzt ist es vonnöten, die integrierte Entwicklung von Industrien und Lebensräumen in den Flussgebieten anzukurbeln. Im Moment lassen sich die Probleme bei der Entwicklung der beiden Flüsse als Widerspruch zwischen dem Abschaffen des Alten und der Schaffung von Neuem zusammenfassen. Das heißt: Shanghai war nach der Änderung der traditionellen Industriestruktur bisher noch nicht in der Lage, ein neues industrielles System in gleicher Größenordnung aufzubauen, was als Folge übermäßige städtische Funktionen und unzureichende industrielle Kapazitäten mit sich gebracht hat.

Als Nächstes gilt es nun, den vorhandenen Raum voll zu nutzen. Und dafür wird es nötig sein, hochwertige Fertigung, industrielle Dienstleistungen und städtische Landwirtschaft einzuführen. Auch gilt es, auf die breite Anwendung von Hochtechnologien wie künstliche Intelligenz, Big Data und Große Sprachmodelle zu setzen. Wir müssen eine Ökologie zustande bringen, die den beiden Flüssen und den Menschen vor Ort gut gerecht wird. Das Shanghai der Zukunft sollte sich als eine innovative Stadt mit einem kompletten modernen Industriesystem behaupten.

*Liu Shilin ist Präsident des China Institute for Urban Governance der Jiaotong University Shanghai und Direktor des Forschungsbüros des China Urban-Townization Promotion Council.

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